Püppis Weg in unsere Familie

Geposted von Dominique Jakel am

Über ihre Schwangerschaft, Diagnose, Geburt und die Zeit danach...

 

Ich war in der 30. Schwangerschaftswoche, der letzte großer Ultraschall stand an. Einmal noch das Baby sehen, letzte Gewissheit über das Geschlecht erlangen, vielleicht sogar ein 3D-Bild bekommen? Mit Mann und Sohn im Gepäck machte ich mich vorfreudig auf den Weg zu der Arztpraxis. Meine Gynäkologin war im Urlaub, die Untersuchung wurde deshalb von ihrer Kollegin durchgeführt. Schnell bestätigte sie, dass in meinem Bauch tatsächlich ein Mädchen heranwuchs und bewies uns das eindrücklich mit einem ausgedruckten Ultraschall-Bild. Ihr Gesicht wollte sie uns aber nicht zeigen. Gewicht und Größe lagen in der Norm, das Baby strampelte kräftig. Stolz präsentierten wir Motti seine Schwester auf dem Bildschirm. Im anschließenden Gespräch erklärte die Ärztin, dass soweit alles in Ordnung sei. Jedoch habe sie eine Zyste - vermutlich am Eierstock - entdeckt und irgendwie schwimme das Baby auch in auffallend viel Fruchtwasser. Beides sei erst mal nicht bedenklich, Zysten würden kommen und gehen und das vermehrte Fruchtwasser müsse auch nichts bedeuten, sicherheitshalber sollte ich aber nochmal bei einem Pränataldiagnostiker vorstellig werden. 


Zu Hause angekommen machte ich gleich einen Termin aus, um dieses lästige „To Do“ schnell von meiner Liste streichen zu können. Denn eigentlich hatten wir bewusst auf weiterführende Untersuchungen (wie z.B. auch die Nackenfaltentransparenzmessung) verzichtet. Fest davon überzeugt, dass mit dem Baby und der Schwangerschaft alles in Ordnung ist, machte ich mir keine weiteren Gedanken darüber.


Auch zu diesem Termin nahm ich meinen Mann und unseren Sohn mit, schließlich standen die Chancen auf ein paar 3D-Ansichten des Babys diesmal sehr gut. Während mein Mann doch ein bisschen aufgeregt war, war ich gewohnt optimistisch und freute mich auf die hochauflösenden Bilder des Feindiagnostikers. Es war Freitag, die Ultraschall-Untersuchung begann und der Arzt schaute sich alles sehr genau an. Jeder Zentimeter des ungeborenen Lebens wurde unter die Lupe genommen, die meiste Zeit schwieg der Arzt. Irgendwann fragte ich zögerlich nach der Zyste und ob alles in Ordnung sei. Der Arzt machte einen sehr konzentrierten Eindruck und antwortete schließlich „ja, da ist eine Zyste, aber das ist nicht das Hauptproblem“ (dieser Satz geisterte mir noch Tage später im Kopf umher). Die weiteren Minuten zogen sich wie Gummi und jetzt war ich doch ziemlich aufgeregt. Problem? Was denn für ein Problem? Die Untersuchung dauerte fast eine Stunde. Als der Arzt endlich fertig war, setzte er eine ernste Miene auf und erklärte uns, dass ich tatsächlich sehr viel Fruchtwasser hätte. Außerdem habe das Baby neben der Zyste noch Wasser im Bauch, ein Hautödem, auffällig kurze Röhrenknochen und ein recht flaches Gesichtsprofil. Das sei alles für sich genommen nichts Schlimmes, aber zusammen genommen könne es auf eine syndromale oder chromosomale Anomalie hindeuten. Er vermute am ehesten das Down Syndrom. Außerdem sei meine Plazenta schon sehr verkalkt. Noch sei das Kind gut versorgt, jedoch müsse man die Versorgung gut im Auge behalten und das Baby im Ernstfall schon früher entbinden. Desweiteren sei das Risiko für einen vorzeitigen Blasensprung aufgrund der massiven Fruchtwassermenge erhöht. Der Arzt empfahl uns engmaschige sonographische Kontrolltermine und eine Fruchtwasseruntersuchung zur Bestätigung seines Verdachts.


Auf der Heimfahrt war es sehr still im Auto. Motti saß munter plappernd auf der Rückbank und ich hatte einen dicken Kloß im Hals. Meine Gedanken wirbelten wild im Kopf umher, ich wusste gar nicht, was ich sagen sollte. Down Syndrom? Frühgeburt? Fruchtwasseruntersuchung? Und wo kam bloß das Wasser im Bauch des Babys her? Ich fühlte mich völlig überfahren.


Uns stand das Wochenende bevor und wir fingen beide an zu recherchieren. Wir lasen über Softmarker, Risiken, alternative Ursachen. Das Wasser im Bauch des Babys führte uns zu schlimmen, lebensbedrohlichen Diagnosen, die uns große Angst machten. Denn der Arzt konnte im Ultraschall hierfür keine Ursache entdecken. Wir wägten ab, überlegten hin und her… befanden uns stundenlang zwischen Bangen, Hoffen, Verzweifeln und Trauern. Ich konnte nicht schlafen, wälzte Dissertationen und war am Ende nicht schlauer als vorher. Meine Gedanken kreisten vor allem darum, ob mein Mädchen die restliche Schwangerschaft bzw. ihre Geburt überleben würde. Über eine Sache war ich mir letztlich aber sicher: Ich konnte diese Ungewissheit nicht ertragen. 10 weitere Wochen in diesem Zustand erschienen mir wie eine Folter. Wir entschieden uns deshalb, die Fruchtwasseruntersuchung durchführen zu lassen. Vielleicht war es ja doch einfach „nur“ das Down Syndrom?


Am Montag rief ich in der Praxis des Feindiagnostikers an und wir bekamen direkt am nächsten Tag einen Termin. Ich war so aufgeregt. Die Fruchtwasserentnahme gestaltete sich zunächst etwas schwierig. Kaum war das Röhrchen in die Fruchtblase eingedrungen, drückte das Baby sich mit ihrem Rücken dagegen, sodass kein Wasser fließen konnte. Die Entnahme war nicht sehr angenehm, trotzdem erfüllte mich der Kämpfergeist meiner Tochter in diesem Moment mit sehr viel Stolz. Vielleicht hatte sie Angst, dass wir auf dumme Gedanken kommen, wenn das Fruchtwasser ihr Geheimnis noch vor der Geburt verraten würde? Irgendwie klappte es dann doch noch, die Probe wurde eingeschickt und die Warterei begann…


Am Freitag sollten wir uns beim Genlabor melden. Ich wartete, bis Robert von der Arbeit nach Hause kam, den Anruf wollten wir nämlich gemeinsam tätigen. Mit klopfendem Herzen lauschten wir dem Freizeichen und erklärten schließlich der Person am Telefon das Anliegen unseres Anrufes. Die Frau bat um einen Moment Geduld. Nach einigen fast unerträglichen Sekunden seufzte sie und erklärte, sie habe keine guten Nachrichten für uns. Unser Baby habe Trisomie 21.


Nachdem wir aufgelegt hatten, wartete ich auf den Schock. Aber irgendwie kam da keiner. Entgegen meiner eigenen Erwartung machte sich allmählich eher ein Gefühl der „Erleichterung“ in mir breit. Jetzt hatten wir eine Erklärung für all die Besonderheiten, die der Arzt sah und das Down Syndrom wirkte lange nicht so bedrohlich, wie alles, was ich mir zwischenzeitlich schon ausgemalt hatte.
Trotzdem fühlten wir uns natürlich erst mal komisch. Jetzt war unser Kind also doch nicht so wie erwartet. Was würde das für uns und unser Leben bedeuten? Und für unseren Sohn? Wir hatten so gar keine Ahnung. Weder ich noch mein Mann kannten Menschen mit Down Syndrom. Deshalb begann ich wieder mit einer Recherche. Ich las ganz viel. Schaute mir Fotos und Reportagen an, folgte anderen betroffenen Familien auf Instagram. Schließlich trat ich in ein Familien-Forum auf Facebook ein, wo ich sehr herzlich empfangen wurde. Und langsam bekam ich ein Bild von Kindern mit Down Syndrom und stellte fest, dass deren Familien eigentlich ganz "normal" lebten. Das Unbekannte, mit dem wir uns zunächst konfrontiert fühlten, verlor Schritt für Schritt seine Bedrohlichkeit und wandelte sich mehr und mehr zu einer durchaus bewältigbaren Zukunft.


Noch am Tag der Diagnose passierte etwas Verrücktes. Wir waren Lebensmittel einkaufen und während ich dabei war, Obst auszusuchen, fuhr eine Mutter mit dem Einkaufswagen und ihrem Sohn an uns vorbei. Der Sohn, schätzungsweise im Teenager-Alter, trug coole Klamotten, unterhielt sich nett mit seiner Mutter, las den Einkaufszettel und half ihr ganz selbstverständlich beim Einkauf. Ich dachte mir, von diesem jungen Mann sollte sich so manch anderen Teenager mal eine Scheibe abschneiden. Er hatte offensichtlich das Down-Syndrom. Ich habe ihn vorher noch nie gesehen und auch nachher nie wieder. Aber diese Begegnung war für mich wie ein Wink des Schicksals. Ab da wusste ich: wir schaffen das!

Mindestens 90% der Schwangerschaften, in denen heutzutage eine Trisomie 21 festgestellt wird, werden in Deutschland durch Abtreibung beendet. Ob wir jemals darüber nachgedacht haben? Nein! Wir haben uns ein zweites Kind gewünscht, und sollten eins bekommen. Und egal, wer sich da auf den Weg zu uns in die Familie machte, sollte herzlich empfangen und geliebt werden!

 

Wir wussten nun also, dass unsere Tochter ein extra Chromosom im Gepäck hatte. Damit konnten und wollten wir leben. Aber dann war da ja noch die Sache mit dem unerklärten Wasser im Bauch und meiner verkalkten Plazenta. Wie empfohlen, nahmen wir nun also wöchentlich Termine bei dem Pränataldiagnostiker wahr. Zusätzlich wurde die reguläre Mutterschaftsvorsorge weiterhin im Zweiwochentakt von meiner Gynäkologin durchgeführt. Dieser „Ärzte-Marathon“ wurde mit der Zeit ziemlich anstrengend und nervig. Irgendwie wurde die ganze Schwangerschaft plötzlich wie eine Krankheit behandelt. Aber weil es darum ging, „Hilferufe“ des Babys frühzeitig zu erkennen und entsprechend handeln zu können, nahmen wir diese Termine auf uns. Denn das Wasser im Bauch hätte auch ein Zeichen für eine Anämie sein können und da hätte man schnell handeln und das Baby holen müssen. Mein Mann begleitete mich von nun an immer und ich bin sehr froh darüber, dass er so häufig und flexibel von der Arbeit verschwinden konnte. Unseren Sohn ließen wir derweil oft von Freunden betreuen.

Aufgrund der großen Fruchtwassermenge spannte mein Bauch schon ziemlich. Dies führte schon ab der 25. Schwangerschaftswoche zu regelmäßigen Vorwehen. Mittlerweile war ich arbeitsunfähig geschrieben, verbrachte die meiste Zeit zu Hause auf der Couch und sah dabei zu, wie der Sommer, auf den ich mich so gefreut hatte, an mir vorüberzog. Dabei hatte ich mir alles so schön ausgemalt mit meinem Sohn und meinem Babybauch. Für mich war aber Schonung angesagt, schließlich wollte ich ja auch keine Frühgeburt provozieren. So hatte ich viel Zeit, mich weiter zu belesen und mich auf unser besonderes Mädchen einzustellen und vorzubereiten. 

Die Zyste im Bauch unserer Tochter verschwand tatsächlich einfach so. Das Wasser blieb, nahm aber auch nicht zu. Das war erst mal ein gutes Zeichen. In der 33. Schwangerschaftswoche entdeckte der Arzt jedoch etwas Neues: Neben einem gefüllten Magen war da noch eine zweite mit Flüssigkeit gefüllte Blase im Ultraschall zu sehen. Er nannte dieses Phänomen „Double Bubble“ und erklärte, dass es sich vermutlich um eine Engstelle im Zwölffingerdarm handelt. Hier könne das Fruchtwasser, welches vom Baby geschluckt werde, nicht weiter fließen, sodass sich eine zweite gefüllte Blase neben dem Magen bildet. Wir fragten uns natürlich gleich, wie das Baby nach der Geburt denn trinken und ausscheiden soll, wenn durch den Darm nichts durchkommt. An dieser Stelle kam die Ernüchterung: Garnicht. Diese sogenannte Duodenalstenose müsse schon kurz nach der Geburt operiert werden, um dem Baby eine orale Ernährung zu ermöglichen.

Eine Operation kurz nach der Geburt? An einem so kleinen, zarten Wesen? In Vollnarkose? Das bedeutete doch Kinderklinik, Intensivstation und viele neue Sorgen und Ängste! Erneut wirbelten unsere Gedanken wild durcheinander. Reichte es nicht langsam mit schlechten Nachrichten für diese Schwangerschaft? Bis zu diesem Zeitpunkt hofften wir nämlich noch auf eine ganz normale Geburt mit ganz normalem Wochenbett. Diese Hoffnung schwand spätestens bei der Geburtsplanung in der Klinik. Natürlich eine Klinik mit neonataler Anbindung. Von meinem Traum auf eine Entbindung im Hebammenkreißsaal musste ich mich nämlich schon länger verabschieden. Aber immerhin lag mein Mädchen im Gegensatz zu meinem Sohn in Schädellage und erlaubte somit eine spontane Entbindung. Dachte ich.

Zur Geburtsplanung in der 35. Schwangerschaftswoche erschien die Oberärztin der Gynäkologie, eine Oberärztin der Kinderklinik und der Kinderchirurg. Was ein Trubel um so ein kleines Wesen. Es wurde erneut geschallt und endlich bekamen wir mal eine gute Nachricht zu hören: Das Wasser im Bauch des Babys war verschwunden. Einfach so. Das Hautödem habe die Ärztin auch nicht mehr gesehen. Die Duodenalstenose wurde aber auch dort bestätigt. Der Kinderchirurg war mir gleich sympathisch, ein sehr einfühlsamer Mensch, der uns anschaulich aufzeichnete, was und wie er den Darm unserer Tochter operieren wolle. Wir klärten noch ein paar offene Fragen und kurz vor dem Gehen eröffnete uns die Gynäkologin dann, dass sie in diesem Fall zu einem zweiten Kaiserschnitt rate. Kaiserschnitt? Nein, das wollte ich nicht. Der letzte lag doch schon vier Jahre zurück und ich wollte doch so gerne mal eine natürliche Geburt erleben. Denn schon bei Motti blieb mir dies aufgrund seiner Beckenendlage verwehrt. Während ich bei allen bisherigen Untersuchungen wirklich tapfer war, brachen in diesem Moment dann doch die Tränen aus. Jetzt nahm man mir noch die letzte Hoffnung auf etwas „Normalität“ bei dieser mittlerweile so stark pathologisierten Schwangerschaft. Die Ärztin erklärte, sie habe Bedenken, dass die durch das viele Fruchtwasser bereits stark überdehnte Gebärmutter unter den Geburtswehen an der Narbe reißen könne. Auch die deutlich gealterte Plazenta könne sich bei der Geburt lösen und eine Mangelversorgung verursachen. Das wollte ich natürlich auch alles nicht. Also vereinbarten wir einen Sectio-Termin für den 21.08.17, 9 Tage vor dem eigentlichen Entbindungstermin. Ich war alles andere als glücklich über diese Wendung.

Ziemlich ermüdet von all den Arztbesuchen, Diagnosen, unerwünschten Wendungen und Aussichten konnte ich meine Schwangerschaft am Ende kaum noch genießen. Drei Wochen Krankenhaus-Zeit wurden uns nach der Geburt prognostiziert und eigentlich wollte ich das alles einfach nur noch hinter mich bringen. Die Aussicht darauf, mein Kind zunächst nur auf der Intensivstation besuchen zu können, sie nicht stillen zu können und das Ganze auch noch mit Kaiserschnitt-Schmerzen bewältigen zu müssen, verdarb mir die letzte Vorfreude auf die Geburt. Auf der anderen Seite war mir natürlich bewusst, dass jeder Tag in meinem Bauch für unsere Tochter wichtig war und wir so lange durchhalten müssten, wie nur möglich. Schließlich stand nicht nur mir, sondern auch ihr nach der Geburt eine große Herausforderung bevor.

Mittlerweile konnte ich die 300m bis zum Kindergarten nur noch mit dem Auto bewältigen und mich kaum noch bewegen. Der Bauch war riesig und sobald ich lief, bekam ich leichte Wehen. Zwischenzeitlich wies mich meine Gynäkologin sogar ins Krankenhaus ein, als sie die Wehen erstmals auf dem CTG entdeckte. Da diese jedoch nichts Neues für mich waren und ich mir sicher war, dass die Geburt noch nicht eingesetzt hatte, bat ich um Entlassung und schaffte es tatsächlich noch drei weitere Wochen.

Am Dienstag, den 15.08.2017, ich war mittlerweile in der 38. Schwangerschaftswoche, wachte ich auf und stellte fest, dass sich der Pfropf, welcher den Muttermund in der Schwangerschaft verschließt, gelöst hatte. Ein erstes Anzeichen für die bevorstehende Geburt. Es war ein herrlicher Sommertag. Vielleicht der letzte dieses Jahr? Den wollte ich mit Motti noch genießen und schleppte mich deshalb ins Freibad. Er ging so gerne baden und musste in der letzten Zeit eh schon so viel zurückstecken. Mit einer Mama, die sich kaum noch bewegen konnte, zog nämlich auch der Sommer am großen Bruder irgendwie vorbei. Mein großer, starker Junge verhielt sich die letzten Wochen sehr verständnisvoll, half mir beim Schuheanziehen, brachte mir, worum ich ihn bat und streichelte regelmäßig liebevoll die riesige Kugel. Gemeinsam malten wir uns aus, was wir alles machen würden, wenn „die Schwester“ (so nannte er sie immer) endlich da war.

Wir hatten einen schönen Tag, aber irgendwie war es in meinem Bauch plötzlich so still geworden. Eigentlich konnte ich das Baby bis dahin regelmäßig spüren. Ein paar Sorgen machten sich breit. Da ich am nächsten Tag aber eh meinen wöchentlichen Kontrolltermin hatte, wollte ich uns erst mal nicht verrückt machen. Am Abend wurden die bekannten Vorwehen dann plötzlich stärker. Noch nicht richtig unangenehm, aber irgendwie häufiger. Wir gingen alle gemeinsam ins Bett und ich lag noch lange wach. Um genau zu sein, schlief ich in dieser Nacht gar nicht mehr. Die Wehen wurden häufiger und auch irgendwie unangenehmer. Sollte es jetzt also tatsächlich losgehen?

Am 16.08.17 erwachte ich nicht wie gewohnt von meinem Wecker, sondern vom Flüstern meiner Frau: „Ich glaub, es geht los“. Ich versuchte mich an den Geburtsvorbereitungskurs unseres Sohnes zu erinnern. Denn bei all den Arztterminen der letzten Wochen war für einen zweiten Kurs keine Zeit gewesen. Was war nun zu tun? Ich zückte die Stoppuhr und stellte mit Erschrecken fest, dass die Wehen schon im Abstand von 5-8 Minuten kamen. Jetzt wurde es also ernst. Ich versuchte, einen klaren Kopf zu behalten und fragte, was ich meiner Frau noch Gutes tun könne. Ich brachte ihr ein Frühstück ins Schlafzimmer, während sie noch die letzten Sachen in die Kliniktasche warf und tapfer ihre Wehen veratmete. Gegen 6 Uhr schnappten wir unseren verschlafenen Sohn, packten ihn ins Auto und gaben ihn wieder mal bei unseren Freunden ab, die wir hierfür sogar aus dem Bett klingeln mussten. 

Im Auto fragten wir uns, was das Einsetzen der Wehen wohl für den Geburtsvorgang bedeuten würde. Gab es jetzt doch noch Chancen auf eine natürliche Geburt? Meine Frau war sich plötzlich sicher, dass sie es versuchen wollte, auch wenn wir schon ahnten, dass die Ärzt:innen darüber nicht erfreut sein würden. Wir meldeten uns im Kreißsaal und meine Frau wurde gleich von einer Ärztin untersucht. Der Muttermund war bei 1cm und es war endgültig klar: Jetzt geht’s los. Auf dem Ultraschall sah man, dass unsre Tochter sehr ruhig geworden war und sich kaum noch bewegte. Sammelte sie nur Kräfte für die Geburt oder war sie etwa schon so geschwächt von den ersten Wehen? Wie erwartet, wollten die Ärzt:innen an der Geburtsplanung festhalten und das Baby sofort per Kaiserschnitt entbinden. Durch das viele Fruchtwasser konnte sie sich nicht ins Becken senken und übte somit nur wenig Druck auf den Muttermund aus. Wir wollten der natürlichen Geburt trotzdem eine Chance geben und baten um etwas mehr Zeit. Zum Glück stimmte der diensthabende Oberarzt zu und meine Frau wurde an ein CTG angeschlossen. 

Ständig öffnete sich die Tür. Die Hebamme ging im Wechsel mit verschiedenen Ärzt:innen ein und aus, hier und da wurden Werte kontrolliert und gemessen, ein Venenzugang gelegt und das CTG immer wieder kritisch beäugt. Nach etwa einer Stunde erklärte die Hebamme, dass das Baby zu ruhig sei und ihr dies nicht gefalle. Mit Aromaöl wollte sie die Kleine aktivieren. Meine Frau schnüffelte nun also kräftig am Zitronenduft. Aber so langsam machten sich auch bei uns Sorgen breit. Was war aus unserem Powermädchen geworden? Die sonst so regelmäßig im Bauch turnte und stets auf Stupser von außen reagierte? Wieso war sie plötzlich so verdammt still? Wie von den Ärzt:innen befürchtet tat sich am Muttermund auch zwei Stunden später nichts. Es musste etwas passieren. Mittlerweile hatte ein Schichtwechsel stattgefunden. Die neue Ärztin stellte sich kurz vor und uns anschließend vor die Wahl: Wehentropf oder Blasenöffnung. Die Geburt müsse jetzt beschleunigt werden, denn wenn das CTG weiter so auffällig bleibe, drohe ein Notkaiserschnitt. Wir hatten uns über beide Alternativen belesen und meine Frau hatte große Angst vor einem Wehensturm, der die Gebärmutternarbe des alten Kaiserschnittes zum Reißen bringen könnte. Auch eine Blasenöffnung erschien uns sehr riskant. Durch das viele Fruchtwasser hätte schnell ein Nabelschnurvorfall stattfinden können, der das Leben unseres Mädchens gefährdet hätte. Noch während wir abwägten, kam wieder eine Ärztin ins Zimmer geeilt und erklärte, jetzt sofort einen Kaiserschnitt machen zu wollen. Der Entscheidungsdruck, der auf uns lastete, war riesig. Der Wunsch nach einer natürlichen Geburt war nach wie vor groß, doch letztlich war uns eines klar: Hauptsache das Baby kommt unbeschadet auf die Welt! Denn ihm standen ja eh noch einige Herausforderungen bevor. Wir entschieden uns also für den Weg, der uns für das Baby am sichersten erschien - den Kaiserschnitt.

Jetzt ging es ganz schnell. Während meine Frau sich auszog, einen Blasenkatheter gelegt bekam und den OP-Kittel anzog, leierte der Anästhesist seinen Standardtext runter und ließ meine Frau einige Papiere unterschreiben. Und schon war sie weg. Es war jetzt etwa 09:20 Uhr.

Auch ich bekam OP-Kleidung und sollte im Flur warten. Ich kam mir völlig nutzlos vor. Während meine Frau gerade für die Geburt vorbereitet wurde, zog sich meine Wartezeit wie Gummi. Warum dauerte das so lange?

Endlich wurde ich erlöst. Der Anästhesist kam durch eine Hintertür und führte mich in den Operationssaal. Überrascht stelle ich fest, dass meine Frau bereits auf dem OP-Stuhl lag. Der Raum war voll mit Menschen: Gynäkolog:innen, Kinderärzt:innen, Schwestern, Hebammen und dem Anästhesisten. Alle trugen grüne Kleidung, Mundschutz und Handschuhe. Alle waren da, um unsere Tochter auf die Welt zu holen und sie im Notfall gleich versorgen zu können. Ich war sehr aufgeregt, ein bisschen besorgt aber auch vorfreudig. Denn gleich sollte ich unsere Tochter das erste Mal sehen. 

Ich setzte mich ans Kopfende und es ging sofort los. Mir blieb nichts übrig, als irgendetwas zur Beruhigung und Ablenkung meiner Frau beizutragen. Sie zitterte am ganzen Körper, vor Kälte und natürlich vor Aufregung. So viele Sorgen, Ängste und Aufregung in den letzten Wochen um das kleine Wesen, das wir gleich kennen lernen sollten. Keine drei Minuten später war es dann so weit: Um 09:51 Uhr wurde unser kleines Wunder geboren. Eingewickelt in ein Handtuch wurde sie uns kurz gezeigt und sofort verschwand die Kinderärztin mit ihr im Nebenraum. Ich war von riesiger Freude erfüllt. Meine Tochter war nun endlich da. So lange hatten wir auf sie gewartet, gehofft, gebangt und nun hatte die Warterei ein Ende. Aber die Freude wurde schon schnell von neuen Sorgen abgelöst. Denn die Ärztin kehrte nicht zurück. Warum blieb sie so lange weg? Warum brachte man uns die Kleine nicht zurück? Ging es ihr denn etwa nicht gut? 

Meine Frau musste nun wieder zugenäht werden. So verbrachten wir noch fast eine Stunde im OP-Raum. Ohne unsere Tochter. Und keiner konnte uns sagen, wie es ihr ging. Meine Frau versuchte sich offensichtlich abzulenken. Sie begann ein Gespräch mit den operierenden Ärzt:innen, fragte nach dem Zustand der Plazenta und erkundigte sich nach weiteren für mich belanglosen Dingen. Wir erfuhren, dass das Fruchtwasser bereits grün verfärbt war. Das Baby hatte also schon deutlichen Stress erlebt und hätte die Wehen wohl nicht mehr lange mitgemacht. Aber wie ging es ihr jetzt? Was war denn bloß los?

Anschließend wurden wir in ein Überwachungszimmer gebracht. Wir hatten immer noch nichts von unserer Tochter gehört. Gab es vielleicht Komplikationen? Warum sagte uns denn niemand etwas? Wir wollten sie endlich sehen und wissen, wie es ihr geht! Aber sollte ich meine Frau jetzt einfach alleine lassen? In Absprache mit ihr machte ich mich schließlich auf die Suche nach unserem Baby.

Ich war schon wieder so aufgeregt. Sie zu finden, war gar nicht so einfach. Ich fragte mich durch und plötzlich stand ich vor ihr. Die Kinderärztin und eine der Krankenschwestern waren noch dabei, sie zu versorgen. Sie lag in einem Wärmebett und sah ganz friedlich aus. Aber offensichtlich schaffte sie es noch nicht, alleine zu atmen. Sie wirkte so klein und zerbrechlich, ich wollte sie am liebsten in die Arme nehmen und beschützen. Ich fühlte mich plötzlich so ohnmächtig, konnte den Mitarbeiter:innen nur dabei zuschauen, wie sie diesen Part für mich übernahmen. Also blieb mir nichts, als ein paar erste Fotos von unserem Baby zu schießen - meiner wunderschönen Tochter. 

Im nächsten Augenblick wurde sie schon aus dem Raum geschoben und in das darunterliegende Stockwerk gebracht: Die Intensivstation. Ich wurde gebeten, erst in einer Stunde wieder zu kommen. Puh, hier brauchte man wirklich Nerven wie Drahtseile. Die Wartezeit verbrachte ich mit meiner Frau und wir betrachteten stolz die ersten Fotos. Ich merkte ihr aber auch ihre Enttäuschung an. So sollte die erste Begegnung von Mama und Baby ja eigentlich nicht ablaufen. Sie sagte, das alles fühle sich so fremd an. War das wirklich unser Kind? Natürlich wollte sie unsere Tochter auch gerne richtig sehen, sie anfassen, sie auf den Arm nehmen, so wie man das eben macht mit seinem neugeborenen Baby. Aber unser Baby war nicht bei uns. Und meine Frau hatte gerade eine nicht zu unterschätzende Operation hinter sich. Man ließ uns weiter warten.

In der Zwischenzeit verkündeten wir die Geburt unserer Tochter den Großeltern und organisierten die Betreuung unseres Sohnes für die nächsten Tage. Denn dass wir noch eine Weile im Krankenhaus bleiben sollten, stand ja schon vor der Geburt fest.

Als etwas später der Zustand meiner Frau stabil erschien, sollte nun endlich ihr sehnlichster Wunsch erfüllt werden. Sie bekam ein starkes Schmerzmittel und wurde auf einen Rollstuhl umgelagert.  Nichts ist wohl stärker als der Wille einer Mutter, ihr Kind zu sehen - denn ein paar Minuten später waren wir bereits gemeinsam auf der Intensivstation. Die Hebamme begleitete uns bis vor das Zimmer. Der Raum war abgedunkelt. Darin stand ein beeindruckendes „Babybett“, das mehr einer komplexen Maschine als einer gemütlichen Wiege glich. Überall piepsten Geräte, leuchteten Zahlen und noch immer war die Kleine von uniformierten Menschen umgeben. Ich schob meine Frau neben den Inkubator, welcher für sie ein paar Zentimeter heruntergefahren wurde. 

Da lag sie also, unser kleines Mädchen. Sie trug eine riesige Atemmaske, in die Nase führte bereits eine Sonde, im Arm steckte ein Venenzugang und am Fuß blinkte die Überwachung für die Sauerstoffsättigung. Ihre Brust war mit Elektroden zur Überwachung der Herztöne beklebt. Meine Frau öffnete den Inkubator und legte ihre Hand auf den Rücken unserer Tochter. Ihr standen die Tränen in den Augen. Und auch wenn der Anblick, der sich uns bot, nicht das war, was man sich nach einer Geburt wünscht, stand für uns eines sofort fest: Dies war unsere Tochter, die wir liebten, so wie sie war und für die wir kämpfen würden, komme was wolle. 

Wir verbrachten noch den Rest des Tages auf der Intensivstation. Sprachen mit Ärzt:innen, beobachteten Krankenschwestern bei der Versorgung unserer Tochter und bestaunten das kleine Wunder in dem brummenden, piependen und blinkenden Kasten. Sie lag ganz friedlich da und schlief. Viel konnte man von ihrem Gesicht wegen der Atemmaske leider nicht sehen, aber die wilde Mähne ließ sich darunter natürlich nicht verstecken. Wow, so viele Haare hatte ich bei einem Neugeborenen noch nie gesehen! 

Noch am gleichen Tag kam ein Kardiologe vorbei und machte einen ausführlichen Ultraschall vom Herzen. Wir waren sehr aufgeregt. Denn bei 40-60% der Neugeborenen mit Down Syndrom findet sich ein Herzfehler, viele davon müssen im Laufe des ersten Lebensjahres operiert werden. Als wir in meiner Schwangerschaft erstmals beim Pränataldiagnostiker waren, war die Sicht durch die fortgeschrittene Schwangerschaftswoche schon sehr eingeschränkt. Ganz ausschließen konnte er einen Herzfehler deshalb nicht. Während der Kardiologe in aller Ruhe schallte, fühlte ich mich an den ersten Termin beim Feindiagnostiker zurückversetzt. Diese angespannte Ruhe, ein schweigender Arzt, der konzentriert auf einen Bildschirm schaut, auf dem der Laie nur Schneegestöber erkennt. Minutenlang. Endlich wurden wir erlöst. Mit dem Herzen unserer Tochter war tatsächlich alles in Ordnung. Da fiel mir erst mal ein großer Stein von meinem Herzen! Auch die anderen Organe wurden nochmal untersucht und sahen soweit gut aus. Was blieb, war die Engstelle am Zwölffinger-Darm, die operiert werden sollte, sobald ihr Zustand stabil genug war.

Geduldig warteten wir alle Untersuchungen ab und blieben noch bis spät in den Abend bei unserem Baby. Natürlich hatte ich große Hoffnungen, die Kleine endlich in meine Arme schließen zu dürfen. Leider wurde daraus am Tag ihrer Geburt nichts mehr. Die Krankenschwester vertröstete uns auf den nächsten Tag, sofern ihr Zustand es dann erlaubte. Während ich in meinem Rollstuhl neben dem Inkubator saß, freute ich mich natürlich einerseits, dass mein Mädchen nun bei uns war. Andererseits war ich aber auch sehr traurig darüber, dass sie nicht so richtig bei uns sein konnte. So weit weg von mir in diesem Gerät, das fühlte sich falsch an. Ich wollte sie doch kuscheln, spüren, riechen, streicheln und mit Küssen übersehen. Ihr stundenlang ins Gesicht schauen, sie beim Schlafen beobachtet, ihren Atem hören und mich darüber wundern, dass dieses kleine, vollkommene Wesen tatsächlich aus mir entstanden und so lange in mir gelebt hatte. Eben so, wie ich es bei meinem Sohn erlebt hatte. Aber ich musste mich damit abfinden, dass unser Weg diesmal ein anderer war.

Als die Wirkung meiner Narkose endgültig nachgelassen hatte, spürte ich nicht nur meine Beine und Füße wieder, sondern auch den brennenden Schmerz der Kaiserschnitt-Wunde und den leeren Magen. Es wurde also Zeit, dass ich zurück in mein Zimmer kam. Schweren Herzens verabschiedete ich mich von meinem Baby und ließ mich von meinem Mann zurück auf die Wochenbett-Station schieben. Schon bei der Geburtsplanung hatte ich deutlich gemacht, dass sie mich lieber auf eine andere Station verlegen sollen, als dass ich gemeinsam mit einer glücklichen Mama und ihrem Baby ein Zimmer auf der Wochenbett-Station hätte teilen müssen. Das hätte mir wohl den Rest gegeben. Zum Glück wurde mir ein Einzelbett-Zimmer angeboten, in dem ich meine Ruhe hatte und nicht ständig daran erinnert wurde, wie „falsch“ es war, die erste Zeit nach einer Geburt ohne sein Kind zu verbringen.

Die Krankenschwester, die mich an diesem Abend versorgte, hieß nicht nur genauso wie meine Mutter, sondern umsorgte mich auch wie eine. Sie schenkte mir viele warme Worte und sprach mir Mut für die kommende Zeit zu. Sie organisierte mir auf mein Bitten gleich etwas zu essen, obwohl ich für das Abendessen schon viel zu spät dran war und auch eine elektrische Milchpumpe, denn natürlich wollte ich mein Baby wenigstens mit Muttermilch versorgen, wenn ich sie schon nicht stillen konnte. Nun hieß es also Wecker stellen und alle drei Stunden Milch abpumpen. Zumindest so tun als ob. Denn in den ersten beiden Tagen pumpte ich vergeblich. Nichts kam und das war ziemlich frustrierend. 

Am nächsten Morgen wartete ich schon ungeduldig auf meinen Mann, damit der mich wieder runter auf die Neonatologie schieben konnte. Denn zum Laufen war ich noch nicht fit genug und eine Krankenschwester zu bitten, habe ich mich nicht getraut. Auf der Station war nämlich ziemlich viel los und alle schienen ständig im Stress zu sein. Unser Sohn wurde in der Zeit von der Oma betreut, die noch am Tag der Geburt die lange Reise in den Süden antrat, um uns zu unterstützen. So konnte mein Mann gemeinsam mit mir die ersten Tage im Krankenhaus verbringen. 

Der Tag nach der Geburt sollte ein ganz besonderer Tag sein. Ich durfte endlich mein Baby halten! Sie hatte die Nacht gut überstanden und brauchte nur noch wenig Sauerstoff, sodass man sie mir mit all ihren Kabeln und Schläuchen ruhigen Gewissens in die Arme legen konnte. Was für ein Moment! Mir liefen die Tränen vor lauter Freude und es fühlte sich soooo gut an, die zarte, warme Haut auf meiner zu spüren und mein Gesicht an ihre wilde Mähne zu kuscheln. Unsere Tochter schlief eine ganze Weile tiefenentspannt auf meiner Brust und ich genoss es sehr. Meine Atmung stimulierte ihre, sodass sie es auch eine Weile ganz ohne Maske schaffte. Wir spielten ihr die Spieluhr vor, die unser Sohn mir in der Schwangerschaft schon immer auf den Bauch gelegt hatte: Sie spielte Somewhereover the rainbow

Am Nachmittag kamen dann Oma und der frischgebackene große Bruder zu Besuch. Denn der wollte sich sein Schwesterchen natürlich auch ansehen. Ganz stolz brachte er ihr seinen geliebten Kuschel-Teddy mit, der von nun an in ihrem Bettchen lag und sie an ihren Bruder erinnern sollte. Zärtlich streichelte er sie durch die Öffnung des Inkubators und flüsterte ihr zu, wie sehr er sich darauf freue, wenn sie endlich heim dürfe. 

Das lange Sitzen fiel mir schon am zweiten Tag ziemlich schwer, mir tat mein Hintern davon weh, später auch Rücken und Nacken. Da Laufen aber noch schmerzhafter war, war ich natürlich trotzdem froh über den Rollstuhl. Alle drei Stunden hatte ich ein Date mit meiner Milchpumpe. Auch auf der Intensivstation gab es ein Zimmer, das sich „Stillraum“ nannte. Der Name war leider völlig daneben, denn in diesem Raum befanden sich keine gemütlichen Sitzgelegenheiten und Stillkissen, sondern 6 elektrische Milchpumpen mit 6 Stühlen davor. „Melkzimmer“ wäre also treffender gewesen. Und genauso fühlte man sich dort auch. Ein großer Schrank voller Pump-Sets, Getränke zur Anregung der Milchbildung, ein Kühlschrank für die abgepumpte Milch und viele Frauen mit traurigen und erschöpften Gesichtern wurden zum Alltag. Das gleichmäßige Brummen der Milchpumpe, den Geruch von Desinfektionsmitteln und die bedrückende Stimmung in den Räumlichkeiten werde ich wohl nie vergessen.

Drei Tage nach der Geburt war es dann so weit. Die ersten Tropfen Muttermilch sammelten sich in den Aufsätzen der Pumpe und wurden wie flüssiges Gold in winzige Spritzen aufgezogen. Das Timing war perfekt, denn an diesem Tag stand uns auch ihre Operation bevor. Die Operation, die ihr den Genuss der Muttermilch überhaupt erst ermöglichen sollte. Denn bisher konnte sie aufgrund ihrer Fehlbildung am Darm nur intravenös ernährt werden.  

"Die Duodenalstenose ist eine angeborene Fehlbildung, bei der der Zwölffingerdarm (Duodenum) nicht durchgängig ist. Die angeborene Form tritt durchschnittlich bei einem von 7000 Kindern auf. Bei einem Drittel dieser Kinder liegt zusätzlich eine Trisomie 21 vor. In der Ultraschalluntersuchung wird das sogenannte Double-Bubble-Phänomen sichtbar. Der Magen des Kindes ist mit Flüssigkeit gefüllt und bildet die erste Blase. Auch der Zwölffingerdarm enthält Flüssigkeit und erscheint somit als zweite Blase. Behandelt werden kann die Duodenalstenose nur durch eine Operation. Bei der offenen Operationstechnik wird ein Schnitt von einigen Zentimetern in den Oberbauch gesetzt und der Darm freigelegt. Die beiden Teile des Zwölffingerdarms werden dann eingeschnitten und anschließend aneinandergenäht. Liegen keine weiteren Erkrankungen vor, ist die individuelle Prognose sehr gut. Mit späteren Operationen oder Einschränkungen des täglichen Lebens muss nicht gerechnet werden."  

Am 18.08.2017 war es also so weit. Kaum auf der Welt musste sich unsere Tochter einer großen Operation unterziehen. Wir waren zwar darauf eingestellt, trotzdem war die Aufregung an diesem Morgen sehr groß. Wir standen extra früh auf und verbrachten den Morgen mit viel Kuscheln zwischen dem Gepiepe der Inkubatoren. Als die Schwester erschien, um unser Baby für die OP vorzubereiten, konnte ich sie nur schweren Herzens aus meinen Armen geben. Aber mir blieb nichts anderes übrig, als dem Personal zu vertrauen und die Kleine mit ganz vielen guten Gedanken auf den Weg zu schicken. Wir standen im Gang der Intensivstation und sahen zu, wie der verkabelte kleine Mensch in ihrem Inkubator davon gefahren wurde. Mein Herz schmerzte und ich weinte.

Die Operation sollte etwa zwei Stunden dauern. Wir gingen zurück auf die Wochenbettstation in mein Zimmer und versuchten uns abzulenken. Ich schaute mir Bilder auf meinem Handy an, verschickte einige an unsere Familie und Freunde und versuchte, optimistisch zu sein. Alle drückten die Daumen und dachten ganz fest an das jüngste Familienmitglied.

Nach einer von den zwei geplanten Stunden hielt es mein Mann nicht mehr aus und machte sich auf den Weg in das Gebäude der Chirurgie. Er wollte den Moment, in dem unsere Tochter wieder herauskam, auf keinen Fall verpassen. Ich ruhte mich währenddessen etwas aus und pumpte weiter fleißig Milch für die erste richtige Mahlzeit ab.

Robert wartete und wartete, aber nichts geschah. Er ging ungeduldig den Flur auf und ab und schaute bei jeder Türöffnung hoffnungsvoll auf. Zwei Stunden waren längst vorüber, wir wurden langsam nervös. Gab es Komplikationen? Wie ging es unserer Tochter bloß? Warum war hier denn niemand, den man fragen konnte? Erst nach knapp drei Stunden lief die Chirurgin, offensichtlich auf dem Weg in ihr Wochenende, zufällig an meinem Mann vorbei. Er fragte sofort nach dem Zustand unserer Tochter. Und da kam endlich die Erleichterung: Es ging ihr gut, die Operation sei erfolgreich gewesen und sie wurde gerade für den Rücktransport fertiggemacht. Mein Mann rief mich sofort an und erzählte mir die frohe Neuigkeit. Etwa 30 Minuten später wurde sie aus dem OP in Richtung Intensivstation gerollt.

Im Gespräch mit den Ärzt:innen wurde dann auch klar, weshalb sich die Operationsdauer verlängerte. Beim Öffnen des Bauchraumes entdeckte der Chrirug getrockneten Stuhl an den Außenwänden des Darms. Dieser wies auf eine Perforation des Darms hin. Die Ärzt:innen suchten eine Weile nach der offenen Stelle am Darm, fanden aber keine mehr. Sie musste schon im Laufe der Schwangerschaft abgeheilt sein und sich verschlossen haben. Hier hatten wir nun also auch eine Erklärung für die mysteriöse Flüssigkeit im Bauchraum unserer Tochter, die uns in der Schwangerschaft so viele Sorgen bereitet hatte. Sie kam wohl aus dem Darm, der zu irgendeinem Punkt in der Schwangerschaft beschädigt gewesen sein muss.

Glücklich über den positiven Verlauf standen wir nun also da und schauten uns unsere Tochter in ihrem Inkubator an. Sie war noch sediert und schlief friedlich. In einem Nasenloch steckte ein dicker Tubus, über den sie beatmet wurde. In das andere Nasenloch hatte man ihr eine Sonde gelegt, die durch die neu geschaffene Verbindung bis in den Darm reichte. Hierüber sollte sie vorerst ernährt werden. Diese Sonde teilte sich das Nasenloch mit einer weiteren Sonde, die in den Magen führte, und dazu diente, Flüssigkeiten, die sich dort sammelten, absaugen zu können. Alles wurde mit Klebestreifen auf der Gesichtshaut fixiert. Viel sah man nicht mehr von ihr. Ihr Gesicht war zusätlich sehr aufgequollen.

Einen Tag nach der Operation wurde sie erfolgreich extubiert. Zwei Tage nach der Operation wurde damit begonnen, ihr Muttermilch über die Duodenalsonde zu geben. Vier weitere Tage erhielt sie eine nicht-invasive Atemunterstützung mit Koffein-Therapie. Insgesamt erhielt sie vier Transfusionen mit Trombozytenkonzentraten, um einen Thrombozytenmangel in ihrem Blut auszugleichen. Fünf Tage nach der Geburt wurde ich aus dem Krankenhaus entlassen. Ohne mein Kind.

Ich pendelte täglich von zu Hause in die Klinik, um den Tag bei unserer Tochter zu verbringen und sie mit frischer Muttermilch zu versorgen. Alle drei Stunden hatte ich ein Date mit der elektrischen Milchpumpe. Nach einigen Tagen pumpte ich täglich über einen Liter Muttermilch ab. Acht Tage nach der Operation wurde die Duodenalsonde gezogen und eine orale Ernährung über das Fläschchen begonnen. Ich versuchte, zu jeder Versorgungsrunde anwesend zu sein und ihre Pflege tagsüber selbst zu übernehmen. Bald durfte ich sie auch endlich das erste Mal stillen. Was sie nicht über die Flasche und Brust schaffte, wurde anschließend direkt in den Magen sondiert. Wir übten täglich das selbstständige Trinken und mussten dabei viel Geduld mitbringen. Unsere Tochter schlief immer sehr schnell ein und hatte einfach noch zu wenig Kraft zum Saugen.

Etwa zwei Wochen nach der Geburt war es dann so weit: Unser Baby wurde von der Intensiv- auf die Überwachungsstation verlegt. Hier hatten wir nun ein eigenes Zimmer und es stand sogar ein Klappbett für einen Elternteil zur Verfügung. Ich ließ mich als Begleitperson wieder im Krankenhaus aufnehmen und verbrachte jetzt auch die Nächte bei ihr. Wir verfielen in einen Alltagstrott, gesteuert von den Versorgungsuhrzeiten der Klinik, den Öffnungszeiten der Kantine und den Visiten der Ärzt:innen. Im Pump-Zimmer wurden Verabredungen zum Mittagessen getroffen und über die neuesten Erfolge der Babys geplaudert. Nachts war es in den Gängen der Station sehr einsam. Aus manchen Zimmern drangen gedämpfte Baby-Geräusche und an jeder Ecke piepsten Geräte.

Diese Zeit war sehr kräftezehrend. Während ich zu Hause abgesehen vom nächtlichen Pumpen wenigstens noch etwas Schlaf bekam, sah es in der Klinik damit jetzt sehr mau aus. Zwischen Krankenhaus und Entlassung standen 480ml Milch, die unsere Tochter täglich selbstständig schaffen sollte. Das Abpumpen und alles was dazu gehörte dauerte jedes Mal etwa 30 Minuten. Und das im drei-Stunden-Takt. Danach versuchte ich etwa eine halbe Stunde, die Kleine zu stillen. Es folgten Wiegeproben, um die getrunkene Menge zu ermitteln. Anschließend gab es den Rest der Menge mit der Flasche. Das dauert nochmal zwischen 30 und 60 Minuten, da die Kleine nur sehr langsam trank. Zwischendurch immer wieder Wickeln oder Ausziehen, um sie zu wecken. So vergingen pro Mahlzeit etwa zwei Stunden. Eine Stunde blieb mir also bis zur nächsten (Pump)-Mahlzeit, um zu schlafen. Aber ich wusste, die Krankenschwestern hätten weniger Geduld und würden viel schneller sondieren. Und so kämen wir hier nicht raus. Also hielt ich durch und alles drehte sich nur noch darum, die Milch in das Kind zu befördern. Keine schöne Zeit. Wenig Platz für glückliche Muttergefühle.

Aber auch diese Zeit nahm ihr Ende. Nachdem unsere Tochter ihre Menge mit viel Einsatz endlich schaffte, stand die Entlassung in greifbarer Nähe. Sie wurde uns am Freitag für das Wochenende angekündigt. Ich fuhr noch einmal mit meinen Männern nach Hause und wir bereiteten alles vor. Ich packte ihr ein Heimfahr-Outfit und war schon ganz aufgeregt. Endlich sollte Normalität einkehren. Endlich sollten wir unserer Tochter ihr zu Hause zeigen können. Endlich sollten wir vier vereint sein.

Doch am Samstag brachte mir eine Krankenschwester morgens plötzlich ein Pulver vorbei. Ich sollte dies in die Muttermilch mischen, um die Kleine mit zusätzlichen Kalorien zu versorgen. Sie nahm nicht ausreichend zu. Ich war etwas irritiert. So kurz vor der Entlassung etwas Neues probieren und warum hatte das eigentlich niemand mit uns abgesprochen?

Wir trafen die diensthabende Ärztin auf dem Gang. Diese erklärte uns dann, dass unsere Tochter nicht ausreichend zunahm, sie so nicht entlassen werden könne und sie deshalb einige weitere Tage zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben müsse. Die Enttäuschung war so groß, dass ich meine Emotionen nicht mehr kontrollieren konnte. Mitten auf dem Gang der Neonatalstation brach ich in Tränen aus. Ich konnte mich kaum beruhigen. Unter Schluchzen erklärte ich, dass ich keine Kraft mehr hätte, endlich nach Hause wolle, und dass ich mir sicher sei, dass wir mit eigenem Rhythmus und in heimischer Atmosphäre auch ihr Gewicht steigern könnten. Der Ärztin schien mein Gefühlsausbruch etwas unangenehm, sie schickte mich zurück auf unser Zimmer und versprach, noch einmal mit der Oberärztin zu reden.

Beide erschienen kurze Zeit später bei uns. Während ich den Tränen wieder nahe war, blieb mein Mann standhaft und erklärte selbstsicher unseren Plan: Nach Hause gehen, ganz viel kuscheln, stillen und füttern und zwar in unserem Tempo und unserem Rhythmus. Ohne Nahrungsergänzungsmittel. Er ließ in seiner Ansprache wenig Spielraum für Kompromisse. Und die Ärztinnen ließen sich tatsächlich überzeugen. Unter der Voraussetzung, dass wir am Dienstag nochmal zu einer Gewichtskontrolle vorbeikommen würden, würden wir am Sonntag gehen dürfen.

Ich konnte es erst gar nicht glauben. Und bis kurz vor unserer Abfahrt habe ich es auch nicht geglaubt. Aber nachdem die letzten Untersuchungen gelaufen waren und unsere Tochter am Sonntagmorgen tatsächlich 20g zugenommen hatte, nahm ich ihr Heimahr-Outfit aus der Tasche, zog ihr ihre ersten selbstgenähten Sachen an und machte ein letztes Foto auf der Klappliege. Gemeinsam warteten wir auf meinen Mann und unseren Sohn, die uns um 10:00 Uhr abholen sollten. Keine Minute später schritten wir voller Stolz und Zuversicht den Gang entlang, verabschiedeten und bedankten uns bei dem Personal und traten aus der Tür des Krankenhauses. 18 Tage nach ihrer Geburt atmete unsere Tochter das erste Mal frische Luft.

Die Sonne schien, der Spätsommer zeigte sich von seiner schönsten Seite. Ich blinzelte in den Himmel, fühlte mich plötzlich ganz frei. Und überglücklich.


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